DANAE NAGEL
"Das Abecedarium der stimmlichen Raumwahrnehmung".
"Theoretische Reflexionen und Forschungsansätze im Kontext künstlerischen Protests und politischer Musik."
Die Suche nach der eigenen Stimme und ihrer Raumwahrnehmung ist eine Reise der Selbstfindung und Emanzipation. Durch künstlerischen Ausdruck und interdisziplinäre Forschung werden die vielfältigen Dimensionen der eigenen Stimme entdeckt. Das Abecedarium der stimmlichen Raumwahrnehmung ist ein künstlerisches und theoretisches Werk, das die Bedeutung der Stimme als Ausdrucksorgan erforscht. Persönliche Erfahrungen werden mit politischen und ästhetischen Fragen zu Stimme, Raum und Freiheit verknüpft. Es lädt dazu ein, die Rolle der Stimme als politisches und musikalisches Ausdrucksmittel und Werkzeug der Emanzipation zu reflektieren und zu erforschen sowie als Orientierungsinstrument im sozialen Raum zu dienen.
Konzeption/SoundKomposition/Texte Danae Nagel aka Vitamin2bomb, Grafikdesign Voula Sofra, Herstellung Dr-Dub, Produktion/Musikalische Beratung/Tontechnik Leon Baumgartl, Track Produktion Konstantin Von Sichart, Künstlerische Beratung Mark Tomka Künstlerische Beratung Ulf Aminde
EINLEITUNG
“Jede*r kann singen!”
Ich kann mich noch erinnern an die Zeiten, wo ich einfach keinen Zugang zu meiner eigenen Stimme hatte. Meine Stimme war wie auf Eis gelegt, wie auf stummgeschaltet, wie im Lager vergessen. Mein Atem fühlte sich flach und nicht genug an, um einen Vokal oder ein Geräusch zu bilden. Es war ein Gefühl der Isolation, da meine Wellenlänge eventuell kein Gehör erreichen konnte.
Ich weiß nicht mal genau, was alles dazu beigetragen hat und wie ich dazu kam, meine Stimme als hässlich zu betrachten. Es war nicht nur die Stimme, die für mich abscheulich war. Ich habe gedacht, wenn ich überhaupt mein Maul aufmache, dann auch was ordentliches sagen. Was wichtiges, etwas beitragendes. Bloß nichts falsches, dummes, oberflächliches, nicht bedachtes.
Aber wo lernt eine Person überhaupt genau das? Wo bildet eine Person die eigene Stimme? Was trägt dazu bei und wie genau kann eine Stimme ihren eigenen Raum entdecken und bespielen? Wo lerne ich meine eigene Meinung zu bilden, meinen Gedanken einen Klang zu schenken? Wie viele Menschen, Orte und Räume führen dazu, die eigene Stimme zu stimmen? Wie messen wir unsere Resonanz? Wer alles, kriegt unseren Klang mit? Welche Klänge imitieren wir, von jung bis alt, und welche Wiederholungen, welche Loops, sind uns wichtig? Gibt es spezifische Orte oder Situationen, in denen wir unsere Stimmen zusammenschließen und voneinander lernen?
Ich bin auf der Suche nach einem Klang-Vokabular, um Essenz, Wichtigkeit und Grundelemente der Bildung meiner Stimme zu sammeln.
Da ich als Kind musikalisch aufgewachsen bin, hatte ich musikalische Bildung, im Kinderchor, im Konservatorium, musikalisches Elternhaus, musikalische Pflegefamilie, musikalische Umgebung. Musik war eine der Sprachen, die ich wirklich beherrschte. Jedoch habe ich immer das Gefühl gehabt, das sei nicht meine Identität. Aus der Frustration heraus habe ich mich radikal für die freie Kunst entschieden und diese als Ausdrucksmittel ausgewählt, um einen passenden Ausdruck meiner Identität aufzuspüren. Heißt auch etwas, was leise sein kann. So leise wie das Zeichnen oder das Malen. Etwas, was die Stille länger aushält, als die Musik es tut. Aus dieser Perspektive habe ich angefangen, meine musikalischen Werkzeuge nicht mehr zu verwenden. Ich habe aufgehört zu üben, zu proben, zu singen, sogar zu sprechen. Ich habe nur gezeichnet. Das Zeichnen erlaubte mir, den inneren Raum des Körpers zu betrachten. Anatomisch, so wie symbolisch. Irgendwann studierte ich Bildhauerei, und dort entdeckte ich die Liebe zum Sound wieder. Die Liebe zum Klang. Der Klang der Gestaltung meiner Skulpturen hat mich bewegt. Es war so, als hätte ich eine Zwischensprache gefunden, zwischen Musik und Bildhauerei, Musik und Klang, Klang und Sprache.
Der Klang meiner Skulpturen, der Klang meiner Stimme, der meine Gedanken verbal notieren konnte und philosophische Recherchen machte, hat mich zutiefst inspiriert. Ich fühlte mich frei.
Dieses Gefühl der Freiheit schenkt mir der Klang bis heute. Die Klanglandschaften, wo Stimme als Organ und Gedanken als Position sich mit dem Raum in Verbindung setzt. Der Raum, in dem man sich schon körperlich befindet, der eigene Körper, ein Klangraum, der kreiert wird von den eigenen Taten, Worte, Lauten, Bewegungen. Alles eine direkte Weiterleitung der eigenen Existenz. Sogar die eigenen Träume, kommen mit einem Klangteppich in der Realität an. Die Sinne, die gefühlt werden sollen. Die ein Abdruck der eigenen Wahrheit sind. Raum, Stimme, Gedanken, Träume werden in einer Tonspur gesampelt, abgespielt und gemischt.
Ich habe mich wieder frei gefühlt, in dem ich meine Stimme und mein Werkeln aufgenommen habe. Es war unwichtig, ob es schön klang. Es war unwichtig, ob ich etwas bemerkenswertes sagte, es war nur ein Freiheits Prozess. Dieser Zustand der Freiheit hat mich ermutigt und mich dazu gebracht, aufzuklären, dass Freiheit nur und immer ein Zustand sein kann.
Als ich irgendwann später nach dem Studium meinen persönlichen Raum verloren habe, wohnungslos war, nach mehreren Gewalts Erfahrungen, Verlust, Trauma, Tod, Trennung, Täuschungen, verlor ich den Sinn für den Raum. Es ergab sich eine starke Dissonanz und es war wie ein asynchroner Körper im Körper. Mein Körper und seine Sinne spielten in unterschiedlichen Tempi. Der geistige Raum erfuhr eine Frequenzänderung.
Dann kam ich zu der wichtigsten Erkenntnissen und Emanzipation: es ist möglich, meinen eigenen Raum zu definieren durchs atmen üben, verrücken, ululieren, stimmen, arrangieren, erheben, stumm schalten, flüstern, rufen, schreien, singen, murmeln, brüllen, hauchen, säuseln, krächzen, klingen, summen, trällern, schreien, rufen, lachen, weinen, sprechen, plappern, zischeln, stöhnen, wispeln, quietschen. So klinge ich. So werde ich gehört. Mein Körper ist der primäre Raum meines Lebens und bringt mir das geometrische Verständnis bei. Indem ich mir aktiv zuhören lerne, orientiere ich mich wieder. Indem ich mich zu kollektiven Geschichten einordne, in denen Freiheit und Zugehörigkeit sich vereinen. Sogar in Phasen des Lebens, in denen man falsch intoniert, können Texte, Arien und Satiren passende Klänge schenken.
Aus diesem Grund und aus dieser Motivation, ein Rezept der stimmlichen Emanzipation zu komponieren, das A und O im Sinne von Alpha und Omega, die Raumwahrnehmung, meine eigene Stimme und ihre Klangräume von stumm zu laut zu definieren: kam der Wunsch, ein Abecedarium zu gestalten, indem von A bis Z, Begriffe und Klang-Beispiele die dazu beigetragen haben, meine eigene Stimme zu bilden. Eine breite Zeitlinie, eine Skala, ein Audiogerät für alles was Stimme kann, vor allem das singen, nicht nur weil ich überzeugt bin, dass jede*r singen kann, sondern weil das Singen frei macht von jeglicher Macht und potenzielle Gewalt abschafft. Ich übe meine Stimme in kollektiver Chorarbeit, um Geschichten von unten zu erzählen. Ich denke an die Gesänge der Partisanen und das Gedicht von griechischen Antifaschist, Arbeiter und Poet, Fotis Angoules:
Μὴν καρτερᾶτε νὰ λυγίσωμε
μήτε γιὰ μιὰ στιγμή,
μηδ᾽ ὅσο στὴν κακοκαιριὰ
λυγάει τὸ κυπαρίσσι.
Ἔχουμε τὴ ζωὴ πολύ,
πάρα πολύ, ἀγαπήσει.
Φώτης Αγγουλές (1911-1964)
Erwartet nicht, dass wir uns beugen,
ebenso wenig wie im Sturme sich Zypressen beugen,
denn dafür lieben wir zu sehr,
nur all zu sehr das Leben
Fotis Angoules (1911-1964)
Ich betrachte als eines der komplexeren und mühsamen Aufgaben von einem Mensch, seine Stimmung stimmen zu können. In Gewissheit, dass Synchronisation, Rhythmus, Tempo, Tonlage und Harmonie die Schlüssel für den Frieden sind. Die innere Stimme, die Gedanken und alles, was zum Unbewussten gehört und durch die Gestaltung der Stimme zum Bewusstsein wird. Gedanken sortieren, die richtigen Wörter finden, den Ton treffen. Die verschiedenen Nuancen einer Stimme zu beschreiben, sei es Lautstärke, Tonlage, Artikulation oder Emotionalität, und zu zeigen, dass nicht jeder, der träumt, verloren ist, und dass Kunst Träume in die Realität umsetzen kann. Utopien sind real. Utopien sind Träume, die durch Stimme, Klang, Raum und den anarchischen Radius realisiert werden können.
ZUSAMMENFASSUNG
Wie klingt meine persönliche politische Positionierung? Wie fasse ich am besten zusammen meine interdisziplinäre Transzendenz? Wie klingt ein politisches Gedicht, das zehn Jahre lang komponiert worden ist? Wie nehme ich durch meine Stimme den Raum wahr? Wie sieht sein ABCDarium aus?
“Das Abecedarium der stimmlichen Raumwahrnehmung".
"Theoretische Reflexionen und Forschungsansätze im Kontext künstlerischer Protests und politischer Musik.”
Diese interdisziplinäre Forschung fand im Rahmen des Weiterbildenden Masterstudiengangs “Raumstrategien” an der Weißensee Kunsthochschule Berlin statt. Die Gestaltung der klanglichen Komposition wurde auf Vinyl geschnitten.
Der schriftliche Teil wurde in dem Quadrate- Vinyl Format als ein Buch/Band gestaltet.
Das ursprüngliche Vorhaben von 2014 bestand darin, ein künstlerisches Lexikon zu erstellen, das Skulpturen mit Worten, Gedichten und Geschichten verbindet. Die Planung beinhaltete, ein räumliches Alphabet zu kreieren, was die Sprache der Poesie symbolisiert und die Verbindung zwischen mentalem und physischem Raum, um einen neuen ästhetischen Weg zu gestalten.
Es gibt zahlreiche Raum Erfahrungen, die unsere Empathie unterstützen oder abstumpfen. Es gibt zahlreiche Erfahrungen, die uns ausmachen, die wir bewusst oder unbewusst aussuchen, um die zu sein, die wir sein wollen oder sein können. Innerhalb des komplexen Diskurses, der Freiheit, gibt es zahlreiche Wörter, Begriffe, aus unglaublich vielen und divers schönen, so wie hässlichen Welten unseres Kosmos, die mich zutiefst bewegen und faszinieren.
Ich sehe Bildung im künstlerischen Ausdruck und die Natur der Wissenschaft in der Interdisziplinarität und Zusammenarbeit als eine bereichernde Methode, die Welt zu erkunden. Es wirkt befreiend, die persönliche Geschichte zusammen mit der persönlichen Stimme innerhalb von Systemen zu verstehen, die diese zugehörig sind.
Die Stimme hat die Macht Systeme zu schaffen und diese Systeme sollten freundlich gesinnt Menschen dienen. Das Wohl und das gute Leben der Menschen behüten. Unsere Stimmen sind unsere Gedanken, es sind die Erinnerungen von Menschen, die vor uns da waren, und der Nachhal ihrer Taten. Es sind Reflektionen von Wahrnehmungen. Es sind Klänge, eine größere Komposition.
Wir sind unsere Stimmen und unsere Klänge. Das was wir weitergeben, können wir durch unser musikalisches Dasein
reflektieren, beobachten, Entscheidungen treffen, lernen. Wir kreieren so frei wie möglich, so human wie möglich unseren Weg. Der Einfluss der Politisierung und das Musizieren ist gleich wichtig und fördert die Bildung sozialer Gruppen, in denen Teilnahme befreiend ist.
Meine Stimme ist die Resonanz von den vorgegebenen Räumen, die ich beitrete, sowie die Räume, die ich gestalte, sind das Ergebnis meiner Stimme. Meine Stimme lernt und bildet sich ständig weiter und bleibt weiterhin zu existieren im Räsonieren.
Dieses ABCDarium der stimmlichen Raumwahrnehmung ist ein Versuch, eine Auswahl zu treffen von unterschiedlichen Begriffen anhand sozial, politisch, ökonomisch, ästhetisch und künstlerischer räumlicher Wahrnehmung. Dieses ABCDarium ist ein begrenzter Fokus von einer unbegrenzt größeren Landschaft, dem Kosmos. Es ist ein poetischer Ansatz unserer Welt. Die Darstellung der Frequenzen demonstriert den Raum der Stimme, eine Stimme im Raum, den Raum als Aufnahme der Stimme oder die Stimme als ästhetisches Echo und Abdruck eines Raums. Alle Prozesse, die hier dokumentiert sind, zählen mit länger als zehn Jahre Klang-Archiv bis ins heutige 2024. Dieses ABCDarium kommt von künstlerischen, politischen Projekten, Erfahrungen und es zählt hunderte von Menschen, die es beeinflusst haben. Generationen Übergänge, Finanzkrisen, Aufstände, Depressionen, Tode und Geburten von Menschen. Schicksale, die nicht verändert werden können, wie die meisten Dramen und Geschichten, die unbekannt oder bekannter sind.
Irgendwo dazwischen schwebt meine Stimme auch. Der Prozess der stimmlichen Raumwahrnehmung endet nicht hiermit. Das ist nur ein Kapitel von mehreren, die geschrieben worden sind, um gehört zu werden. Ich freue mich auf alle akustischen Erfahrungen, musikalische Gehöre, um mit auch einen kritischen Raum von diversen Wahrnehmungen, die von Empathie geprägt sind, aufzubauen.
Dieses ABCDarium mit seiner Frequenzen-Sammlung forscht im ästhetischen, mentalen, architektonischen, philosophischen, politischen, sozialen, ökonomischen, musikalischen Raum, der Bedeutung der Stimme und der stimmlichen Emanzipation.
Der Text erforscht meine persönlichen Erfahrungen und wie man durch alle Disziplinen eine Verbindung zu der eigenen Identität finden kann. Es werden Fragen aufgeworfen über die Bedeutung von Stimme, Raum und Freiheit sowie die Rolle der Musik in politischen Kämpfen. Die Kraft der Stimme als Mittel des Widerstandes und des Ausdrucks von Autonomie erfolgt durch die Verbindung zur Musik, zur Kunst und zum Einfluss auf die eigene Stimmung.
Welche Klänge orientiere ich meinen Sinn nach?
Wer gibt den Ton an?